Antirassismus in grünen Strukturen verankern!
Was ist unser Verständnis von Rassismus?
Hinter Rassismus steht die Grundidee, dass Menschen unterschiedliche Wertigkeiten aufgrund ihres Phänotyps beigemessen werden. Dieser Phänotyp entsteht durch die stereotypisierte Vorstellung einer Person nach ihrem äußeren Erscheinungsbild, zugeschriebenen Kultur, Ethnie oder Religion. Rassismus wertet dabei durch gesellschaftlich entstandene Konstrukte nicht-weiße Menschen ab. Er ist ein historisch gewachsenes System, das durch sehr komplexe Macht- und Diskriminierungsmuster gesellschaftliche Machtunterschiede manifestiert und diese rechtfertigen will.
Diese ungleich geschaffenen Machtverhältnisse lehnen wir als GRÜNE JUGEND BW deutlich ab und Ziel unserer Arbeit ist es, diese zu dekonstruieren, aufzulösen und Rassismus kollektiv zu verlernen.
Rassismus ist als gesellschaftlicher Irrglaube historisch durch den Beginn der Kolonialisierung im 16. Jahrhundert entstanden und zieht sich auch heute noch durch unsere Gesellschaft. Wir alle sind rassistisch sozialisiert worden, da unsere Erziehung durch ein eurozentrisches Weltbild [1] geprägt wird. Nicht zuletzt diente der Kolonialismus zur Ausbeutung gesamter Kontinente. Heute sehen wir immer noch, wie Kolonialismus in der Gegenwart wirkt. Ein Teil davon sind unfaire Handelsverträge und Politik, die den globalen Süden und insbesondere indigene Völker diskriminiert. Klima- und Grenzpolitik sind hierbei nur zwei von vielen Beispielen.
Rassismus wirkt, indem bestimmte Menschen in unserer Gesellschaft als Teil einer vermeintlich homogenen Gruppe angesehen werden. Menschen dieser Gruppen werden dabei gewisse Dispositionen und Charaktereigenschaften, wie zum Beispiel Intelligenz oder Temperament, zugeschrieben. Alle Charaktereigenschaften, die ein Mensch dieser abstrakten Gruppe besitzt, werden dabei als festgelegt angesehen und die Menschen automatisch schlechter gestellt, wodurch ihnen ihre Individualität abgesprochen wird.
Durch Rassismus wird versucht aktuelle Machtverhältnisse zu legitimieren und zu sichern. Er soll gesellschaftliche Benachteiligung rechtfertigen. Weißen Menschen werden strukturell Privilegien geschaffen, da durch Rassismus die Illusion geschaffen wurde, dass diese fortschrittlicher und zivilisierter seien.
Rassismus ist auch eine soziale Frage, denn er ist ein grundlegender Bestandteil kapitalistischer Klassengesellschaften. Ist man von Rassismus betroffen, ist die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass man auch von Klassismus [2] betroffen ist. Das ist eines von vielen Beispielen von Mehrfachdiskriminierungen.
Deutschland hat ein Rassismusproblem.
Rassismus ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Das Konstrukt einer rassismusfreien Gesellschaft in Deutschland ist momentan noch Utopie und wir müssen aktiv auf eine solche Gesellschaft hinarbeiten. Es reicht nicht, kein*e Rassist*in zu sein, wir müssen Antirassist*innen sein!
In der Öffentlichkeit reden wir häufig nur dann von Rassismus, wenn wir ihn im Kontext von Rechtsextremismus sehen. Somit verdrängen wir das Problem allerdings an den Rand unserer Gesellschaft und schreiben somit nur Menschen mit extremer politischer Position Rassismus zu. Das erschwert es, Rassismus benennen und aufarbeiten zu können, wodurch wiederum rechte und rechtsextremistische Strukturen profitieren. Rassismus äußert sich nicht nur als gewalttätiger Angriff oder als Folge einer gezielten Tat einer Person mit rassistischer Einstellung.
Struktureller Rassismus zeigt sich durch die gesellschaftliche Realität, dass von Rassismus betroffene Personen systematisch von Ausschlüssen, Vorurteilen und Benachteiligung betroffen sind. Ihnen wird der Zugang zu Ressourcen und gesellschaftlichen Institutionen erschwert, weshalb sie auch in vielen Bereichen unterrepräsentiert oder verzerrt dargestellt sind. Dabei müssen einzelne Akteur*innen der Institution gar nicht vorsätzlich rassistisch sein. Es liegt vielmehr an den historischen Machtverhältnissen, die sich in Gesellschaft und den Institutionen manifestiert haben. Rassismus findet sich daher offen, aber auch versteckt in unserer Gesellschaft wieder. Diese Erfahrungen ziehen sich durch das ganze Leben von BIPoC [3] (Black, Indigineous and People of Color). Dies sieht man unter Anderem in der Repräsentation in der Öffentlichkeit, in unseren Parlamenten, in Medien, bei Racial Profiling [4], Grenzkontollen, ungleichen Jobchancen, Gehaltsunterschiede, auf dem Wohnungsmarkt, in Kinderbüchern, im Schulunterricht, in sozialen Medien oder in unserer Sprache. Durch diese Strukturen wird Rassismus in unserer Gesellschaft weiterhin normalisiert und legitimiert.
Alltagsrassismus beschreibt den Rassismus, der Menschen mit Rassismuserfahrung in Deutschland alltäglich trifft. Dieser äußert sich durch verschiedene Handlungen. Beispielhaft hierfür sind die Frage „Woher kommst du?“, das Abweisen an den Türen von Diskotheken, die Aussage „Du sprichst aber gut Deutsch“ oder der Platzwechsel im Zug, wenn sich eine BIPoC in das Abteil setzt. Alltagsrassismus kann aber auch durch positive Phrasen wie „Ihr könnt doch alle so gut tanzen“, „Ihr seid doch alle so fleißig“ oder das Bezeichnen von Menschen als „exotisch“ geäußert werden. Hier wird ein Bild von Menschen aufgrund von bestimmten phänotypischen und kulturellen Merkmalen geschaffen, um diese in eine Schublade zu stecken und ihnen bestimmte Charakteristiken zuzuschreiben. Demnach könne ein Mensch nicht gleichzeitig BIPoC und Deutsch sein, da dies nicht in das Bild der deutschen Mehrheitsgesellschaft passt. Diese Einordnungen sind bestimmt
von rassistischen Denkmustern und schaffen eine Ausgrenzung von Menschen mit Rassismuserfahrung in unserer Gesellschaft. Es wird ein „Wir“ und ein „Ihr“ konstruiert, das Menschen mit Rassismuserfahrung ausschließt. Über viele rassistische Äußerungen herrscht in der Gesellschaft ein stiller Konsens und dieses Verhalten zieht sich durch alle Bereiche.
Deshalb ist für uns wichtig: Neben Rechtsextremismus müssen wir uns auch mit rassistischen Strukturen und Diskriminierungen befassen! Das hilft uns auch rechte Strukturen zu schwächen.
Intersektionalität oder “eine Diskriminierungsform kommt selten allein”
Der Begriff Intersektionalität [5] bezieht sich darauf, dass Menschen von mehreren Diskriminierungsformen betroffen sein können. Er ist ein zentraler Begriff in unserer Antirassimusarbeit. Wir erkennen an, dass von Rassismus betroffene Menschen unterschiedliche Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen machen. Verschiedene Formen von Diskriminierung können nicht isoliert voneinander betrachtet werden, sondern entstehen immer gleichzeitig und sind komplex miteinander verwoben. Deshalb denken wir sie in unserer Arbeit immer zusammen und beziehen sie aktiv in unsere Kämpfe ein.
Beispielsweise macht eine schwarze Cis[6]-Frau aus einem akademischen und wohlhabenden Haushalt andere Rassismuserfahrungen als eine schwarze Frau, die nicht aus einem wohlhabenden Haushalt kommt. Darüber hinaus werden zum Beispiel viele BIPoC-FINT* Personen in feministischen Diskursen kaum gehört oder übertönt und somit ausgeschlossen. Dabei geht es nicht um einen Wettbewerb der Unterdrückung und nicht darum bestehende Kämpfe zu verharmlosen, sondern verschiedene Erfahrungen anzuerkennen und Machtverhältnisse in unserer Gesellschaft zu hinterfragen.
Sexismus und Rassismus lassen sich nicht isoliert voneinander betrachten, sondern sind eng miteinander verwoben. Durch das Zusammendenken von verschiedenen Diskriminierungsformen, wie beispielsweise Rassismus, Sexismus, Queerfeindlichkeit, Klassismus, Ableismus [7], usw. wird gezeigt, dass keine dieser Kategorien alleine steht. So können wir durch unsere theoretische und aktivistische Arbeit spezifische Unterdrückungsstrukturen und toxische Machtverhältnisse in unserer Gesellschaft aufzeigen, um sie irgendwann komplett zu dekonstruieren.
Die wichtigsten Schritte für uns als GRÜNE JUGEND BW liegen dabei im kritischen Hinterfragen eigener Privilegien. Außerdem müssen Strukturen in der GRÜNEN JUGEND BW für Menschen mit Mehrfachdiskriminierungserfahrungen zugänglich sein und wir müssen diese Strukturen erkennen und die daraus resultierenden Erfahrungen anerkennen. Betroffene sollen ihre Stimme in gemeinsamen Kämpfen sichtbar machen können und Nicht-Betroffene müssen aktiv zuhören. Unsere politische Arbeit richtet sich gegen Ausschlüsse.
Wie soll unsere antirassistische Arbeit aussehen?
Wir sind alle rassistisch sozialisiert. Deshalb ist auch die Grüne Jugend nicht frei von Rassismus. Um nach außen hin für Antirassismus einstehen zu können, müssen wir zuerst bei uns selbst anfangen, denn aktive antirassistische Arbeit bedeutet immer gleichzeitig eine kontinuierliche Reflexion des eigenen Handelns, der Wahrnehmung und der Denkweise. Hierzu gehört zum Beispiel kritisches Weißsein [8], denn Konstrukte wie “Schwarz” und “of Color” kann es nur geben, wenn es auch eine vermeintliche Norm gibt - nämlich “weiß”. Damit sind auch unbewusste Privilegien verbunden, denen man sich bewusst werden muss. Wir sehen deshalb folgende Ansatzpunkte als relevant:
- Antirassismus muss als Querschnittsthema in möglichst allen politischen Themen mitgedacht werden. Ein Grund hierfür sind Intersektionalitäten, die oben angesprochen wurden. Außerdem erkennen wir an, dass Antirassismus nicht an Grenzen endet und alle sozialen Kämpfe miteinander verbunden sind.
- Das Thema Rassismus ist abseits von starken öffentlichen Debatten auch innerhalb der GJBW nicht präsent genug. Deshalb möchten wir, dass der Landesverband mindestens ein mal pro Jahr eine Veranstaltung zum Thema Rassismus organisiert, die unabhängig vom Programm der Landesmitgliederversammlung ist.
- Bei Veranstaltungen der GJBW soll darauf geachtet werden, dass die gesellschaftliche Vielfalt repräsentiert wird. Dies gilt insbesondere für Referent*innen von Workshops und Teilnehmende von Podiumsdiskussionen. Die Vielfalt soll auch unabhängig vom Thema der Veranstaltung gewährleistet sein.
- Die GJBW muss sich auch in ihrer medialen Präsenz (z.B. in social media posts) diverser aufstellen. Hier gilt wiederum, dass dies unabhängig vom Thema geschehen soll.
- Die GJBW soll sich mit zivilgesellschaftlichen Organisationen solidarisieren, die die antirassistische Arbeit in Baden-Württemberg voranbringen. Hierzu gehört aktiv auf die Organisationen zuzugehen und sie in ihrer Arbeit zu unterstützen. Es soll auch ein regelmäßiger Austausch stattfinden, z.B. in Form eines digitalen runden Tischs.
- BIPoC innerhalb der GJBW sollen ermutigt werden. Deshalb halten wir Empowermentarbeit [9] innerhalb unseres Verbands für sehr wichtig. Dafür sollen geeignete Konzepte erarbeitet werden. Außerdem soll es offizielle Vernetzungstreffen für BIPoC geben. Keine BIPoC soll sich dazu verpflichtet fühlen, Antirassismusarbeit leisten zu müssen. Deshalb soll unsere Empowermentarbeit zum Großteil auch unabhängig von Antirassismusarbeit sein.
- Soweit möglich soll es auf Veranstaltungen der GJBW eine BIPoC als Ansprechperson geben, da wir denken, dass bei einigen Fragen und Anliegen die Hemmschwelle für BIPoC niedriger ist, sich an eine andere BIPoC zu wenden. Die Person wird vorher von der Arbeitsgruppen Antirassismus berufen.
- Die Awareness Group soll in Zukunft verstärkt für das Thema Rassismus sensibilisiert werden.
Was fordern wir von den Grünen Baden-Württemberg?
Bei den Grünen Baden-Württemberg sehen wir auf allen Ebenen noch viel Nachholbedarf, was das Verständnis von Rassismus angeht. Bis zur Black-Lives-Matter Bewegung im Juni 2020 haben sich die Grünen Baden-Württemberg de facto gar nicht mit strukturellem Rassismus befasst, geschweige denn geeignete Ansätze erarbeitet. Auch hier denken wir aber wieder, dass die Partei zuerst parteiintern ihre Strukturen und ihre Arbeit hinterfragen muss, bevor sie sich nachhaltig gegen Rassismus stellen kann. Deshalb fordern wir folgende Punkte:
- Die Grünen BW müssen sich mit Rassismus auseinandersetzen und lernen, wie dieser wirkt. Hierzu können Mitglieder in Ämtern und Mandaten gezielt geschult werden, um sich beispielsweise ihrer eigenen Privilegien bewusst zu werden.
- Insbesondere dürfen die Grünen sowohl parteiintern als auch nach außen Rassismus nicht nur im Kontext von Integration verstehen. Dies macht die Rassismuserfahrung vieler Menschen unsichtbar und verlagert zudem die Diskussion. “Vielfalt” und “interkulturelle Kompetenz” sind unserer Meinung nach keine Synonyme für Antirassismus, sondern nur ein wichtiger Bestandteil davon.
- Innerhalb der Partei muss es eine klare Kante gegen Rassismus und rassistische Äußerungen geben. Hierzu können wir uns eine parteiinterne Antidiskriminierungsstelle nach dem Beispiel der Grünen Berlin vorstellen, die sich mit solchen Fällen auseinandersetzt, sich mit dem Landesvorstand austauscht und als Anlaufstelle für Betroffene dienen kann.
- Es soll nach dem Beispiel Berlins und des Bundesverbands eine AG Vielfalt gegründet werden, die alle marginalisierten Gruppen berücksichtigt. Diese erarbeitet konkrete Konzepte für die Grünen BW. Zum Beispiel halten wir die Gründung eines Diversitätsrates für sinnvoll, welcher unter anderem Antirassismus behandelt. Der Diversitätsrat würde dem Landesvorstand der Grünen BW einen konkreten Maßnahmenplan vorstellen, aktuelle Problemstellungen thematisieren und sich gemeinsam mit dem Landesvorstand um die Durchführung von Diversity-Umfragen (siehe Punkt 5) kümmern.
- Es soll alle zwei Jahre eine parteiinterne Diversity-Umfrage stattfinden. Diese soll ermöglichen eine Übersicht über die Vielfalt innerhalb des Grünen Landesverbands zu erhalten und diesbezüglich Maßnahmen erarbeiten.
Wir verstehen, dass Antirassismus ein fortlaufender Prozess ist. Deshalb nehmen wir uns vor auch in Zukunft weitere Forderungen zu stellen.
Glossar:
[1] eurozentrisches Weltbild – die ideologische Beurteilung nicht-europäischer Kulturen aus der Perspektive europäischer Werte und Normen. Europa bildet hier das unreflektierte Zentrum des Denkens und Handelns und wird als Maßstab für Vergleiche mit anderen Ländern und Kulturen gesehen.
[2] Klassismus – Vorurteile, Ungleichbehandlung und Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft oder der sozialen und ökonomischen Position und richtet sich mehrheitlich gegen Personen einer „niedrigeren Klasse“
[3] BIPoC – steht für Black, Indigenous and People of Color, selbstgewählte Bezeichnung von Menschen, die sich selbst als nicht-weiß definieren
[4] Racial Profiling - bezeichnet polizeiliche Maßnahmen und Maßnahmen von anderen Sicherheits-, Einwanderungs- und Zollbeamt*innen, wie Identitätskontrollen, Durchsuchungen oder auch Verhaftungen, die nicht auf einer konkreten Verdachtsgrundlage oder Gefahr erfolgen, sondern allein aufgrund von "äußeren" Merkmalen – Beispielsweise Hautfarbe oder (vermutete) Religionszugehörigkeit.
[5] Intersektionalität – Überschneidung und Gleichzeitigkeit verschiedener Diskriminierungskategorien gegenüber einer Person
[6] Cisgender – Eine Person deren Geschlechtsidentität übereinstimmt mit dem Geschlecht, das ihr bei der Geburt zugeschrieben wurde
[7] Ableismus – Vorurteile, Diskriminierung und Ungleichbehandlung aufgrund einer Behinderung
[8] kritisches Weißsein – versteht Rassismus als gesellschaftliche Struktur und beschreibt „Weißsein“ als häufig unerkanntes Privileg
[9] Empowermentarbeit – Selbstermächtigung, zielt auf die (Rück-) Gewinnung von Selbstbestimmung über die Umstände des eigenen Alltags