Offener Brief zur herausfordernden Lage auf dem Ausbildungsmarkt
17.6.2022
Offener Brief an die baden-württembergische Landesregierung sowie an die Mitglieder des Ausschusses für Wirtschaft, Arbeit und Tourismus zur herausfordernden Lage auf dem Ausbildungsmarkt
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Winfried Kretschmann,
sehr geehrte Frau Ministerin Dr. Nicole Hoffmeister-Kraut,
sehr geehrte Frau Ministerin Theresa Schopper,
sehr geehrte Mitglieder des Ausschusses für Wirtschaft, Arbeit und Tourismus,
Wir, die Gewerkschaftsjugenden aus Baden-Württemberg und die Grüne Jugend Baden-Württemberg, wenden uns mit diesem gemeinsamen Schreiben an Sie, um auf die sich verschlechternde Lage auf dem Ausbildungsmarkt in Baden-Württemberg aufmerksam zu machen. Vor allem die Corona-Pandemie hat die Situation für viele Jugendliche und junge Menschen mit Blick auf passende Ausbildungsangebote und Qualifizierung erheblich erschwert. Wir erkennen keine Hinweise dafür, dass sich dieser Trend durch die aktuellen politischen Maßnahmen ändern wird.
Letztes Jahr konnten über 26.000 Bewerbende im Land keinen Ausbildungsplatz finden. Dieses Jahr werden über 15.000 junge Menschen unter 25 Jahren als arbeitslos gezählt. Die Corona-Pandemie hat die Lage verschärft: 2021 wurden ca. 10% weniger Ausbildungsverträge als noch im Jahr 2019 abgeschlossen. Einige Jugendliche und junge Erwachsene sind aufgrund fehlender Strukturen und Angebote untergetaucht oder stecken im Übergangssystem fest. Mehr als 10.000 Jugendliche besuchen derzeit das VAB/AV-dual oder das Berufskolleg I. Jede*r zweite Schulabgänger*in, die oder der eine Einstiegsqualifizierung absolviert, mündet nicht in ein Ausbildungsverhältnis ein.
Es besteht ein eindeutiges Matching Problem auf dem Ausbildungsmarkt. Gute, tarifgebundene Ausbildungsplätze werden weniger. So entwickeln Arbeitgeber*innen, wie beispielsweise die Deutsche Post AG als größtes privatwirtschaftliches Unternehmen Deutschlands, immer größeren Gefallen an ungelernten Arbeitskräften. Der damit verbundene Abbau von Ausbildungsplätzen erhöht die Hürden für junge Menschen auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Vor allem aber zeichnet sich ab, dass regional und somit vor Ort junge Menschen nicht ihr Recht auf die freie Berufswahl in Anspruch nehmen können, da ihre Interessen nicht in passenden Angeboten von Ausbildungsplätzen wiederzufinden sind. Als Jugendvertreter*innen besorgt uns die aktuelle Ausbildungslage sehr, denn wir brauchen echte Perspektiven und die Möglichkeiten unsere berufliche Laufbahn selbstbestimmt zu gestalten.
Mit diesem Brief möchten wir Sie dazu auffordern, zentrale Versprechen aus dem Koalitionsvertrag wie beispielsweise die Ausbildungsgarantie konsequent umzusetzen! Gute Ausbildung darf nicht vom guten Willen der Betriebe abhängen, sondern muss politisch und gesetzlich als zentraler Aspekt der Generationengerechtigkeit geregelt sein. Als wirtschaftsstarkes Land, welches von der Arbeit vieler betrieblichen Mitarbeiter*innen profitiert, gilt es hier eine starke Grundlage vorzulegen und nicht auf einzelne Vorhaben der Bundesebene zu warten. Es bedarf hier einer Trendwende - auch in der Darstellung der Lage - seitens der Landesregierung, damit in ganz Baden-Württemberg der berufliche Bildungsweg attraktiver wird und damit jede*r einen guten und passenden Ausbildungsplatz findet.
Gute, tarifgebundene Arbeit bietet finanzielle Absicherungen und bildet somit eine Säule, die wir unmittelbar brauchen, um in eine Zukunft blicken zu können, in der wir gerne leben möchten.
Auch aus dem Blickwinkel des gesellschaftlichen Zusammenhalts brauchen wir dringend gut ausgebildete Fachkräfte in großer Zahl, um den großen Herausforderungen unserer Zeit gerecht zu werden. Wir brauchen gut ausgebildete Handwerker*innen, um die Klimakrise über die Umsetzung der Photovoltaikpflicht oder auch die Gebäudesanierung in den Griff zu bekommen. Wir brauchen gut ausgebildete Pflegekräfte, die Zeit und Kraft haben, sich um hilfsbedürftige Menschen zu kümmern. Wir brauchen gut ausgebildete Erzieher*innen, um jedem Kind faire Startchancen in unserer Gesellschaft zu ermöglichen.
Wir möchten das fehlende Matching Problem und somit die sich verschlechternde Lage auf dem Ausbildungsmarkt gerne an einem eindrücklichen Beispiel der Bundesagentur für Arbeit verdeutlichen: Im Landkreis Ludwigsburg gab es im letzten Ausbildungsjahr 2021/22 vier Bewerber*innen für Ausbildungsplätze im Einzelhandel, die nicht genommen wurden. Zugleich gab es 45 unbesetzte Ausbildungsplätze vor Ort im Einzelhandel. Keiner der Betriebe war bereit, diese Bewerber*innen einzustellen. So etwas darf nicht passieren! Hier können die Unternehmen nicht glaubhaft darstellen, dass sie alles täten, um den Fachkräftemangel zu beheben. Es braucht politische Handlung, um die Verantwortung fair zu verteilen.
Vor diesem Hintergrund fordern wir die Landesregierung auf, noch dieses Jahr den Weg für folgende Maßnahmen zu ebnen:
● Einhaltung der in der Verfassung garantierten freien Berufswahl. Hierzu braucht es eine Ausbildungsgarantie. Der Koalitionsvertrag verspricht eine Ausbildungsgarantie. Die Umlagefinanzierung ist dabei ein wichtiges Instrument, um Solidarität zu etablieren. Dabei muss der Vorrang auf der betrieblichen Ausbildung liegen.
● Eine ernsthafte Strategie zur besseren und flächendeckenden Ausbildung im Land, die die Unternehmen mit in die Pflicht nimmt, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken und somit die Zukunftsfähigkeit Baden-Württembergs abzusichern. Das bedeutet konkret, dass sich mehr Betriebe an der Ausbildung beteiligen müssen, als es bisher der Fall ist. Die Ausbildungsplatzangebote sollten in einer sinnvollen Relation zu den Belegschaftszahlen stehen.
● Es gilt den eingewanderten oder geflohenen Menschen, die sich selbst für eine Berufsausbildung als Perspektive und Integration entscheiden, durch Aufenthaltszusicherung und Chancen ein sicheres Bleiberecht zu garantieren. Dies stärkt auch die Betriebe, da sie dadurch verlässlich Personal einplanen können.
● Die Durchlässigkeit zwischen beruflicher Bildung und Studium muss sich auch in der Berufsorientierung entsprechend widerspiegeln. Hier braucht es beispielsweise an den Gymnasien Angebote, die sich nicht nur auf akademische Bildung fokussieren.
● Die bedarfsgerechte Förderung von Schüler*innen soll bereits in den allgemeinbildenden Schulen beziehungsweise parallel zur Berufsausbildung stattfinden. Wir brauchen deshalb kleinere Klassen, entsprechende Förderkonzepte, mehr Lehrkräfte, mehr Sprachkurse und eine gut ausgebaute schulische Sozialarbeit.
Wir bieten Ihnen gerne an, im Rahmen eines gemeinsamen Gesprächs unsere Forderungen weiter auszuführen. Wir freuen uns, wenn Sie uns in diesem Gespräch oder auch durch schriftliche Antwort auf diesen Brief entsprechende Vorhaben schildern können, die das oben beschriebene Matching Problem sowie die weiteren strukturellen Herausforderungen auf dem baden-württembergischen Ausbildungsmarkt beheben sollen.
Mit freundlichen Grüßen,
- DGB Jugend Baden-Württemberg
- Grüne Jugend Baden-Württemberg
- IG Metall Jugend Baden-Württemberg
- ver.di Jugend Landesbezirk Baden-Württemberg
- jungeNGG Südwest
- IGBCE Jugend Baden-Württemberg
- Michael Futterer, GEW BW, Vorsitzender Landesfachgruppe Gewerbliche, Haus- und Landwirtschaftliche, Sozialpädagogische und Pflegerische Schulen
- Andreas Harnack, IG BAU, Regionalleiter Baden-Württemberg
Aya Krkoutli und Sarah Heim, Landessprecherinnen der Grünen Jugend Baden-Württemberg: "Mit diesem gemeinsamen Brief wollen wir Alarm schlagen für ein zukunftsfestes Ausbildungssystem in Baden-Württemberg. Denn gute, tarifgebundene Ausbildungsplätze sind kein nettes Extra! Sie sind zentraler Aspekt der Generationengerechtigkeit und Grundbaustein, um die großen Herausforderungen unserer Zeit zu meistern."
Leonie Knoll, Bezirksjugendsekretärin der DGB Jugend BW: „Die Chance auf einen Ausbildungsplatz hängt viel zu oft vom sozialen Hintergrund oder hohem Schulabschluss ab. So drohen jungen Generationen für das spätere Leben prekäre Arbeitsverhältnisse oder Arbeitslosigkeit. Eine gute Ausbildung kostet zwar Geld, aber der Wirtschaftsstandort Baden-Württemberg kann es sich nicht leisten, junge Menschen aufs Abstellgleis zu schieben. Wir brauchen eine Garantie für jeden jungen Menschen, eine Ausbildung machen zu können, um genau diesen Verhältnissen entgegenzuwirken.“