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Allgemeine Dienstpflicht – Solidarität mit der Brechstange
Mi, 12.10.22

Allgemeine Dienstpflicht – Solidarität mit der Brechstange

Von Magdalena - Erst kürzlich erwähnte Bundespräsident Steinmeier sie wieder: die allgemeine Dienstpflicht. Für manche ist es ein klassisches Sommerloch-Thema, für andere eine längst überfällige Maßnahme nach Aussetzung des Wehrdienstes 2011.

Dieses Thema liegt mir besonders am Herzen, da ich selbst einen Bundesfreiwilligendienst an einer Schule für geistig behinderte Kinder absolviert habe und dabei erleben durfte, wie bereichernd und erfüllend ein BFD sein kann.

Ich wurde mit offenen Armen in ihre Gemeinschaft aufgenommen und Tag für Tag wuchsen die Kinder einem mehr ans Herz. Durch gemeinsame Erlebnisse wurde man nach und nach immer mehr Teil der Gruppe und man merkte auch, wie wichtig man selbst für die Kinder war.
Fazit: Ich würde es jederzeit wieder machen.

Doch auch, wenn viele vermutlich ein lehrreiches und erfüllendes Jahr als Bufdi erleben, ist fraglich, was die Vorteile eines solchen Dienstes für unsere Gesellschaft sind, sowie für den Einzelnen und welche Nachteile er birgt, nicht nur für die Dienstleistenden, sondern auch für diejenigen, denen geholfen werden soll.

Zunächst eines der zentralen Argumente für eine allgemeine Dienstpflicht: Stärkung des Gemeinsinns, Stärkung der Solidarität.

Denn fehlende Solidarität spürt man täglich in der Gesellschaft, ob es nun um eine Impflicht, ein Tempolimit oder Steuerhinterziehung geht. Es handelt sich bei allen drei um Auswüchse fehlender Solidarität.

Solidarität kann allgemein als Gemeinsinn umschrieben werden, der sich dadurch auszeichnet, dass unabhängig von Beziehung oder Abhängigkeitsverhältnis gehandelt wird. Seit Jahren ist zu beobachten, wie ein Hang zum Individualismus entsteht, ein Rückzug ins Private.
Besonders eindrücklich wird dieser Wandel an einem simplen Beispiel deutlich, wo früher eine Veranda vor dem Haus war, ist heute hinter dem Haus eine Terrasse.

Diese egozentrische Haltung spiegelt sich auch in der Wahrnehmung von ehrenamtlichen Tätigkeiten oder BFDs wider. Denn heutzutage wird eine Tätigkeit oftmals durchgeführt, nur wenn man durch sie einen unmittelbaren Vorteil erlangt, welcher in der Leistungsgesellschaft angesehen wird.

Wir brauchen mehr denn je eine Stärkung der Solidarität in unserer Gesellschaft und eine Dienstpflicht kann hierbei tatsächlich helfen, sie kann Augen öffnen, Horizonte erweitern und eine Begegnung aller Gesellschaftsschichten ermöglichen.

Eine Tätigkeit in einem sozialen Sektor kann Inklusion fördern und Berührungsängste abbauen.

Darüber hinaus kann ein Jahr fern des klassischen Bildungssystems eine Möglichkeit sein, in einer der prägendsten Phasen des Lebens seine eigene Persönlichkeit weiterzuentwickeln. Ein verpflichtendes soziales Jahr kann eine Atempause vor der Meritokratie sein, denn heutzutage geht es oftmals nur noch darum, wer die meisten Praktika, Sprachkurse oder Summer Schools absolviert hat, ohne jegliche Prüfung der tatsächlichen Effizienz.

Die Jugendlichen können durchatmen, einen ersten Kontakt mit der Berufswelt bekommen, insbesondere mit welchem auch die Lockerung traditioneller Rollenbilder einhergehen kann, da dadurch mehr Männer in die Care Arbeit kämen. Es ist ein erstes Einfügen in eine professionelle Gemeinschaft, ein erstes Ertasten, wie man sich am besten in ein Kollegium einfindet, wie man professionell seine Empfindungen kommuniziert.

Soft Skills wie selbstständiges Arbeiten oder Übernahme von Verantwortung kann in einem geschützten Umfeld langsam erarbeitet werden.

Genau dieser besondere Einblick ohne jeglichen Druck, da es weder um Noten noch um berufliche Erwartungen geht, macht das soziale Jahr zu einer besonderen Zeit für die Persönlichkeitsentwicklung junger Erwachsener, welche in der Schule oftmals zu kurz kommt.

Ganz klar ist auch, dass Steinmeier die Debatte im Kontext des Ukraine-Kriegs sowie bei Covid angesprochen hat, um auch mehr Arbeitskräfte zu gewinnen, denn ein Mangel an Kräften, insbesondere in sozialen Berufen, zeichnet sich in Deutschland seit Jahren ab. Während Covid drohten ganze Krankenhäuser zu kollabieren.

Die Zahlen bestätigen einen Kräftezuwachs durch eine Dienstpflicht, denn wo es früher ca.
140 000 Wehr – oder Zivildienstleistende gab, gibt es heute ca. 90 000 Freiwillige. Die neu gewonnen Kräfte können Tätigkeiten übernehmen, zu denen ausgebildete Fachkräfte oftmals keine Zeit mehr finden, auch die Lehrer:innen an der Schule, an der ich mein BFD verbracht habe, haben uns Bufdis ganz klar gesagt, dass ohne uns hier nichts läuft, da sie sonst mit der Arbeit nicht hinterherkämen. Gleichzeitig können sie aber auch zu einer weitergehenden Tätigkeit in demjenigen Berufsfeld anregen; ein Effekt, der auch nachhaltig positive Auswirkungen auf den Pflegekräftemangel haben kann.

Grundsätzlich ist es fragwürdig, inwieweit politische Fehler durch die Verpflichtung Jugendlicher mit nur minimaler Bezahlung ausgeglichen werden dürfen.

Dazu kommt, dass Bufdi`s keine regulären Arbeitskräfte sind. Eine gewisse Zeit zur Einarbeitung muss eingeplant werden und sie übernehmen oftmals insbesondere Tätigkeiten, für welche keine Zeit mehr bleibt, die besonderes Maß an Aufmerksamkeit verlangen. Bei mir waren das beispielsweise oft Aufgaben, wie mit einem Kind Fahrrad fahren zu gehen, Basketball spielen in der Pause oder besondere Hilfestellung bei schwierigen Schulaufgaben.

Was diese Aufgaben außer Zeit aber eben oftmals auch verlangen ist Motivation, denn die Kinder, ältere Menschen oder Menschen mit Behinderung merken, ob jemand motiviert bei der Sache ist oder nicht.

Bufdis bringen nämlich häufig die Menschlichkeit in die Institutionen zurück, die durch den Alltagsstress mal schnell abhandenkommen kann. Sie sind nämlich extra dafür da, sich Zeit zu nehmen und sie stellen vor allem auch in Schulen oder Kindergärten keine direkten Autoritätspersonen dar, sondern nehmen eine besondere Stellung zwischen Freund:in und Autoritätspersonen ein.

Gravierend für diese herausgehobene Stellung wäre es, wenn die Jugendlichen unmotiviert dabei wären; das würde das Konzept konterkarieren. Denn wenn ein Kind mal länger braucht, dann braucht es eben länger. Bei unmotivierten, unzuverlässigen Bufdis mit einer hohen Anzahl an Fehlstunden würde kein großer Mehrwert bleiben.
Denn genau die Institutionen, denen unter die Arme gegriffen werden sollen, sind oftmals schon stark belastet und haben keine freien Ressourcen, auch noch Bufdis zur Mitarbeit zu motivieren und sich um Fehlzeiten zu kümmern.

Zu diskutieren ist, ob wir dennoch als Gemeinschaft „Zwang“ als legitimes politisches Instrument ansehen, um die jungen Erwachsenen dennoch zu einem verpflichtenden sozialen Jahr zu bewegen.

Wie bereits oben festgestellt, hat die Gesellschaft einen Hang zum Individualismus entwickelt und dadurch auch insbesondere einen stark neoliberalen Freiheitsbegriff entwickelt, welcher Gift für eine solidarische Gesellschaft ist. Heutzutage wird Freiheit so definiert, dass man erst dann frei ist, wenn man uneingeschränkt jederzeit alles machen und konsumieren kann was man begehrt, unabhängig davon, ob es anderen Menschen schadet oder nicht.

Das ist allerdings ein Irrtum. Freiheit kann in einer Gemeinschaft nicht so funktionieren. Die Freiheit eines jeden erfährt dort ihre Schranken, wo sie die Freiheit einer*s anderen beschränkt.
Wir müssen unser Zusammenleben im Kontext eines Gesellschaftsvertrages verstehen, in dem ein*e jede*r Rechte, aber auch Pflichten besitzt, in dem Instinkt durch Gerechtigkeit verdrängt wird.

Es ist wie ein Geben und ein Nehmen: Man gibt ein bisschen von seiner individuellen Freiheit und erlangt dadurch kollektive Freiheit, bei welcher man „Eigentum“ am gemeinschaftlichen Besitz, wie öffentliche Schulen, Unterstützung durch die Gemeinschaft, etc… erlangen kann. Dies ist zumindest meine Idee davon.

Darüber hinaus verkennen auch viele in der heutigen Gesellschaft, dass auch die kollektive Freiheit ihre individuelle Freiheit beschützt, da sie überspitzt gesehen Freiwild wären, da es theoretisch legitim wäre, jeden und jederzeit auszurauben, zum eigenen Vorteil.
Somit ist Zwang, ähnlich wie Verbot und Verzicht, ein legitimes politisches Instrument, dennoch muss man immer das Für und Wider seines Einsatzes erörtern.

Denn die oben erörterte mangelnde Motivation wird Zwang nicht ersetzen und Solidarität wird es auch nicht fördern, denn an diesem Punkt kann auch keine Rede mehr von Förderung einer solidarischen Gemeinschaft sein, denn Solidarität zeichnet sich durch Freiwilligkeit aus. Schulpflicht ist auch Zwang, aber die Schule lebt nicht von Freiwilligkeit, es ist nicht das Herz der Bildung. Bei einem sozialen Jahr geht es allerdings genau darum. Es wäre nicht gut für die Menschen und die Institutionen, wenn sie unmotivierten Jugendlichen ausgesetzt wären, denn allein schon in steigenden Quoten des Schulschwänzens zeichnet sich die stetig sinkende Motivation ab. Und auch aus den Institutionen hört man immer öfter, dass selbst Auszubildene, welche sich bewusst für diesen Berufsweg entschieden haben, immer häufiger unzuverlässig und mit wenig Eifer bei der Arbeit sind. Man sollte sich fragen, wie das werden soll, wenn man Menschen dazu zwingt, ein Jahr ihres Lebens dafür arbeiten sollen und ihre Lebensplanung umwerfen müssen.

Ganz davon abgesehen gibt es auch stabile Zahlen bei den Freiwilligen: Es sind zwar weniger als früher durch die Wehrpflicht oder den Zivildienst, aber es ist stabil und mehr als nur ein guter Anfang.

Nicht zu vergessen ist auch die privilegierte Situation, in der sich die meisten BDFler:innen befinden, denn vielen Familien fehlt einfach das Geld so ein Jahr für ihre Kinder zu finanzieren. Wenn ein solcher Dienst eingeführt werden sollte, muss dieser auch sozial abgefedert werden.

Es muss aber auch andere Wege geben, um einerseits die Attraktivität eines freiwilligen sozialen Jahres zu fördern und andererseits auch gesamtgesellschaftlichen Gemeinsinn zu fördern.
Schon länger fordern Bufdis und FSJler:innen auch stärkere finanzielle Vorteile. Mögliche Initiativen könnten sein, dass man kostenlos im öffentlichen Nahverkehr fahren dürfte oder es mehr Vergünstigungen gäbe.

Des Weiteren müsste ganz klar, vor allem auch bei Universitäten und zukünftigen Arbeitgeber:innen der Mehrwert eines sozialen Jahres angepriesen werden, welche persönlichen Eigenschaften die jungen Erwachsenen dadurch erwerben und wie diese ihnen in ihren Universitäten oder Unternehmen auch zu Gute kommen. Das ist nichts anderes als gezielte Aufklärungsarbeit, so dass auch die Jugendlichen merken, dass ein sozialer Dienst im Lebenslauf Goldwert ist.

Die Stärkung der Solidarität ist eine andere Baustelle.
Schon in der Schule können die Weichen für eine solidarischere Gesellschaft gestellt werden. Die Klasse muss von Anfang an als funktionierende Gemeinschaft erlebt werden. Sie muss effektiv durch Lehrer:innen geleitet und gestaltet werden. Dabei helfen würde auch eine längere Zusammensetzung der Klassen, dass die Klassen nicht nach der Grundschule getrennt werden, sondern idealerweise bis zu ihren Abschlüssen eine Gemeinschaft bilden können. Gleichzeitig ist es wichtig, dass es nicht nur „klassischen“ Fachunterricht gibt, sondern auch Fächer wie soziales Lernen, in denen sich Kinder mit ihrem Verhalten in der Klasse auseinandersetzen können.

Viel wichtiger bleiben dennoch Lehrer:innen, die geschult und kompetent die Klassen gestalten. Es darf nicht nur um Inhalte gehen, sondern auch um Erlebnisse, wie gemeinsame Projekte und Klassenfahrten, durch die die Kinder im prägendsten Alter für ihr Leben mehr lernen als rechnen.

Es geht also um soziale und interkulturelle Weiterbildung, welche allerdings schlussendlich und konsequenterweise zu einer Abkehr von der stark neoliberalistisch geprägten Weltsicht führen muss.

Quellen
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Magdalena
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Zitro-Redaktion