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Ungarns neuer Notstand oder Macht frisst Freiheit
Fr, 29.5.20

Ungarns neuer Notstand oder Macht frisst Freiheit

Ein Kommentar mit Humor von Katja Raiher

Willkommen zu einer neuen Episode: Wie Ungarn der EU den Mittelfinger zeigt! Unser Hauptgast: COVID-19 ! Yey!

Neue Krise, neues Glück: Den politischen Selbstmord, den das Parlament Ungarns am 11. März durch den Beschluss neuer Notstandsgesetze begangen hat, bewirkte europaweit einen Aufschrei. Oder wenigstens ein erschrecktes Luftholen. Denn im Prinzip war das nichts Neues.

Bis heute hat es die ungarische Regierung irgendwie verschlafen den früheren Notstand aus dem Jahr 2015 zu beenden. Könnt ihr euch noch daran erinnern, wie dort damals die nationalen Grenzen derart militarisiert worden, dass geltendes EU-Recht praktisch außer Kraft gesetzt wurde? Tja, ist immer noch so.

Gehen wir noch etwas weiter in der Zeit zurück, in die frühen 2010er Jahre: Die neuen Verfassungsänderungen benachteiligen systematisch und schamlos queere Menschen. Öffentliche und private Medien beugen sich ab nun einer Zensurbehörde, die wiederum der Regierung untersteht. Pluralismus und Meinungsfreiheit bekommt Autokratien halt oft nicht so gut.
Und was steht seit diesem März auf der Speisekarte „Notstandsgesetze ungarische Art“? Es gäbe wohl erdrückende Hinweise, dass die Dekrete nicht nur für die Eindämmung des Corona-Virus genutzt, gar politisch ausgenutzt werden! Ich bin empört.

Herr Orban kann nun per Dekret, also ohne die Zustimmung des Parlaments, regieren. Man muss die Parlamentarier ja auch mal in den wohlverdienten Corona-Urlaub schicken, die überarbeiten sich sonst noch. Umso besser, dass sie gar nicht wissen, wann die bezahlte Auszeit enden wird. Denn für eine Aufhebung der Maßnahmen braucht es eine 2/3 Mehrheit und die Zustimmung des Präsidenten, Janos Ader, beides momentan fest in Fidesz-Hand.

Journalist*innen oder Kritiker*innen hat es noch härter getroffen. Eigentlich werden die Medien mittlerweile fast ausschließlich zentralistisch und regierungsfreundlich geführt. Kurze Lieferwege sind halt praktisch: Propaganda frisch von der Regierung direkt ins Fernsehen. Sollte sich seit März aber doch noch jemand finden, der eine abweichende Meinung verbreitet, drohen jahrelange Haftstrafen. Der Journalist so: „Hey, unsere Krankenhäuser sind in einem echt schlechten Zustand.“ Die staatliche Zensur so: „Verbreite keine Lügen, Volksverräter! Gehe ins Gefängnis und denke darüber nach, was du getan hast! “

Was ebenfalls seit dem 11. März auf dem neuen Dekret-Menü steht:

- Von der Opposition regierten Kommunen wurden Steuereinnahmen entzogen und zentralisiert.
- Polizei, sowie nun auch Armee, dürfen jederzeit Personen- und andere Kontrollen durchführen.
- Das Arbeitsrecht muss weder von Arbeitgeber*innen noch Arbeitnehmer*innen noch geachtet werden. Es wird wohl eher auf einen Willkürlichkeits-Vorteil für die Arbeitgeber*innen hinauslaufen.
- Beschneidung individueller Rechte im Justizbereich auf unbeschränkte Zeit - dss laufende Verfahren gegen Polen scheint keine Abschreckung gewesen zu sein.
- Die europäische Datenschutzgrundverordnung wurde teilweise außer Kraft gesetzt. Die Regierung hat keine Barrieren im Zugriff auf Personendaten mehr.
- 140 lokale und ausländische Unternehmen wurden unter militärische, somit Regierungsaufsicht, gestellt, u. A. mit Zugang zu allen Geschäftspapieren. Also ich bin ja auch für mehr Marktregulierung, aber doch nicht so!

Ich leite elegant über zu unseren W-Fragen: Warum hat Orbans Regierungsmonopol noch sowas nötig? Wie sollte die EU reagieren?

Erstens macht sich Fidesz ein bisschen Sorgen um ihre Beliebtheit. Spätestens seit sie bei der letzten Kommunalwahl Budapest an einen grün-liberalen Oppositionellen verloren haben. Und eine mögliche wirtschaftliche Rezession nach Ende der Pandemie ist auch unwahrscheinlich die Popularität zu erhöhen. Die nächste Parlamentswahl wäre erst für 2022 angesetzt, es könnte sich also um ein längerfristiges Kalkül handeln. Da verbeißt Politiker*in sich lieber ganz fest in den Machtknochen, bevor ein*e andere*r es ihm wegnehmen will. Und das sollte uns sehr wachsam stimmen.
Zweitens hatte die EU-Kommission bereits 2018 mit einem Rechtsstaatlichkeitverfahren gegen Ungarn reagiert. Gründe: Undemokratisches Vorgehen bezüglich Justiz, Zivilgesellschaft und Meinungsfreiheit. Ungarn verstößt praktisch am laufenden Band gegen Artikel 2 EUV. Wirklich eingeschüchtert scheint das Verfahren Orban nicht zu haben: Die EU wolle Ungarn ja nur dafür abstrafen, dass sie sich weigerten Migrant*innen aufzunehmen (was der EuGH eigentlich verordnet hatte); dass seine Regierung mittlerweile diktatorisch das Land regiere sei laut ihm nur “Fake-News”. Das Verfahren läuft noch, Ungarn droht der Verlust des Stimmrechts im EU-Rat. Wir können gespannt auf weitere Maßnahmen des EU-Parlaments warten.

Es werden Stimmen laut, die den Ausschluss der Fidesz aus der EVP fordern. Ob das eine mehrheitsfähige Entscheidung ist, kann angezweifelt werden. Ein kategorisches JA aus unserer CDU/CSU Fraktion war noch nicht zu vernehmen. Obwohl sich die ID-Fraktion sicherlich über Zuwachs freuen würde.

Eine starke Maßnahme wären noch wirtschaftliche Sanktionen. Zum Beispiel Ungarns Auslandsvermögen zu beschlagnahmen. Oder in Zukunft EU-Gelder entweder zu reduzieren oder so zu verteilen, dass sie an der zentralen Regierung vorbei direkt an die kommunale Ebene verteilt werden. Letzteres wäre sowohl humaner als auch taktisch klüger. Orban hätte dann kaum noch die Möglichkeit, sich selbst als Ungarns Beschützer gegen die gemeine EU darzustellen, noch mehr EU-Skepsis zu schüren. Und die Bürger, besonders im ländlichen Raum, würden sehen, dass Fidesz kein Garant für wirtschaftliche Unterstützung sein muss.

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Katja Raiher
Mitglied der Zitroredaktion